Zusammenfassung
Nach dem gegenwärtigen Glaubensbekenntnis der deutschen Wissenschaftspolitik müssen
Forschung und Wissenschaft stärker als bisher an den Bedürfnissen der Wirtschaft ausgerichtet
werden. Nur so könne es gelingen, der deutschen Volkswirtschaft zu den Produkten zu
verhelfen, die sie benötigt, um auf dem globalen Markt zu bestehen und das erreichte
relative Wohlstandsniveau zu bewahren. Der Artikel will zeigen, dass mit einer zweckgebundenen
Finanzierung der Forschung durch die Wirtschaft der Code der Wissenschaft partiell
suspendiert und durch den Code der Ökonomie ersetzt wird, in dem nicht lege artis
geprüfte Information („Wahrheiten”), sondern die Chance auf eine optimale Rendite
als oberste Maxime gilt. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Informationen,
die die Verkaufschancen bestimmter Produkte beeinträchtigen, nicht mehr erhoben werden
oder von den Unternehmen zurückgehalten werden. Vieles, was wissenswert, für die Selbstdeutung
einer Kultur wichtig oder als grundlagentheoretische Basis zukünftiger Technologien
wesentlich ist, wird nicht mehr erforscht, wenn das primäre Kriterium der Forschungsfinanzierung
in ihrem unmittelbaren ökonomischen Nutzen gesehen wird. Diese negativen Konsequenzen
der Ökonomisierung der Forschung bezeichnen wir als die Kosten der Unwahrheit.
Abstract
According to the accepted credo of German science policy the organization of research
has to be reshaped to fit the needs of the national economy better than it did so
in the past. This is seen as a conditio sine qua non to help German corporations to
prevail in the global competition as well as to protect national welfare. The author
argues that reorganizing research on a strictly mission-oriented line under economic
imperatives will partly suspend the code of science in favor of the code of economy.
The focal aim of science, which is to reach at the most reliable information in a
methodical and impartial way, will be partly replaced by the aim to reach at the best
sellable information in any way which is cheap and profitable. The probability that
any information which might endanger the market performance of a product is clandestinely
kept under cover by the selling corporation will be greatly enlarged. Expert knowledge
necessary to uncover the truth will be mainly interest bound and no longer be freely
available. Knowledge perceived to be irrelevant for economy, although possibly being
of great intrinsic interest, and even knowledge which might become an essential part
of a culture’s identity, will be lost on its search for an investor. The great danger
is that this applies also to important parts of basic science potentially providing
the foundations for future technologies. Externalities such as these could be called
the costs of economization, or: the costs of untruth.
Schlüsselwörter
Ökonomisierung der Wissenschaft - Ökonomie und Wahrheit - Wissenschaftsethik
Key words
economization of science - economy and truth - ethics of science
Literatur
- 1 Die Wahrheit hat knapp 100 Millionen Dollar gekostet. FAZ, 18. Juni 2004, Nr. 139,
S. 17
- 2 Kirsch G. Der gezähmte Manager. FAZ, 30. Okt. 2004, Nr. 254, S. 13
- 3 Stolze C. Schrecken der Pillendreher. DIE ZEIT, 12. Juni 2003, Nr. 25, S. 28
- 4 New York verklagt Pharmakonzern Glaxo Smith Kline. FAZ, 4. Juni 2004, Nr. 128, S.
16
- 5 Arnim H H von. Korruption. Netzwerke in Politik, Ämtern und Wirtschaft. München
2003; Busse E. Im unteren Viertel. FAZ, 25.3.2002. Weitere Abgeordnete auf VW-Gehaltslisten.
FAZ, 31.12.2004
- 6 Storn A. Biete Idee, suche Geld. DIE ZEIT, Nr. 25, 13. Juli 2002, S. 25
- 7 Franz A. Geld oder Leben. DIE ZEIT, Nr. 49, 25.11.2004
- 8 Barthold H M. Tugend ist eine Zier, doch weiter …. FAZ, 3. Juli 2004, Nr. 152, S.
55
- 9 Demographischer Wandel seit langem bekannt. Leserbrief von Professor Dr. Karl Schwarz,
FAZ vom 24. Mai 2004
- 10 Schorlemmer F. Wahrheit ist immer eine Frage der Interpretation. Das Parlament,
53. Jg., Nr. 35-36, 25. August/1. Sept. 2003, S. 18
- 11 EU-Ökonomen fordern unabhängige Konjunkturprognosen. FAZ, 12.8.2004
- 12 Heusinger R von, Pinzler P. Das griechische Modell. DIE ZEIT, Nr. 44, 21. Okt.
2004, S. 34
- 13 In Italien wird die Preisstatistik zum Politikum. FAZ, 10.11.2004
- 14 Weber T. Wissenschaft und Wirtschaft im Kampfe. FAZ, 31.1.2001
- 15 Stegemann-Boehl S. Vom Lockruf des Geldes. FAZ, 22.1.2003; dies. Fehlverhalten
von Forschern. Stuttgart 1994
- 16 Stelz H. Wer uns sehr genehm, wer und genehm und wer uns unangenehm wäre - Gutachter
zu Holzschutzmitteln. In: Antje Bultmann und Friedemann Schmithals (Hrsg). Käufliche
Wissenschaft. Experten im Dienst von Industrie und Politik, München 1994; S. 351-373
- 17 Martin B. Suppression Stories. Wollongong 1997 (www.uow.edu.au/arts/sts/bmartin/dissent/)
- 18 Fischermann T. Hey, Big Spender!. DIE ZEIT, Nr. 31, 22. Juli 2004, S. 19
- 19 Bankangestellte schreiben Finanzgesetze. FAZ, 7. Juli 2004
- 20
Sackett D, Oxman A.
im British Medical Journal (Ende 2003), nach einem Bericht von Jochen Paulus. Die
Tricks der Pillendreher. DIE ZEIT, Nr. 18, 22. April 2004, S. 40. Vgl. auch Montori
VM et al. User's guide to detecting misleading claims in clinical research reports.
BMJ.
2004;
329
1093-1096
- 21 Lutterotti N von. Das Schweigen der Forscher. FAZ, 17. Dez. 2003, Nr. 293, S. N2.
Material dazu in dem o. g. Sammelband von Antje Bultmann und Friedemann Schmithals
- 22 Stolze C. Schrecken der Pillendreher. DIE ZEIT, Nr. 25, 12. Juni 2003, S. 28
- 23 Blomert R. Zwischen Humboldt und Coca-Cola. DIE ZEIT, Nr. 33, 9. Aug. 2001, S.
25. Blomert nennt auch Beispiele
- 24 Interview mit dem Präsidenten der DFG, Ernst-Ludwig Winnacker, durchgeführt von
K. Rüdiger Durth. Das Parlament, Nr. 29/30, 12./19. Juli 2004, S. 2
- 25 Rorty R. Wissen deutsche Politiker, wozu Universitäten da sind?. FAZ, 31. Aug.
2004
- 26 Frede D. Hamburgs Bedarf an Geist. FAZ, 18. Aug. 2004
- 27 Assheuer T. Der Wissensunternehmer. DIE ZEIT, Nr. 31, 13. Mai 2004, S. 60; Preuß
UK. Wissenswirtschaft? FAZ, 28. Nov. 2001; Apel F. Wissenswirte. FAZ, 14. Juli 2004,
Nr. 161, S. N3
- 28 Breithaupt F. König Student hält Hof. DIE ZEIT, Nr. 38, 9. Sept. 2004, S. 86; Böhme
G. Bildung als Widerstand. DIE ZEIT, Nr. 38, 10. Sept. 1999, S. 51
- 29 Honecker P. Dr. Phrasendrescher. DIE ZEIT, Nr. 41, 30. Sept. 2004, S. 96; Kaube
J. Ihr geht alle in die Medien. FAZ, 8. Mai 2004
- 30 Hartung M J. Bildung aus der Fabrik. DIE ZEIT, Nr. 35, 19. Aug. 2004, S. 76
- 31 Wippermann P. Marken-Bildung …. UNICUM, 21. Jg. Nr. 11, Nov. 2003, 56
- 32 Die Wissenschaft setzt ihre Autonomie aufs Spiel. Interview mit Dieter Grimm, durchgeführt
von Achim Bahnen und Jürgen Kaube. FAZ, 11. Feb. 2002, Nr. 35, S. 48
- 33 Grenzen für Drittmittel an Universitäten. Frankfurter Rundschau, 24. Mai 2002
1 Historisch betrachtet und von der subjektiven Motivationsseite her gesehen gibt es
auch noch andere Ziele, um Wissenschaft zu betreiben. Uns geht es nicht um die empirisch
vorfindbare Vielfalt, sondern um die Funktionslogik der Systeme.
2 Eine interessante Analyse dieses Systems bietet Niklas Luhmann in Der medizinische
Code. In: ders. Soziologische Aufklärung 5: Konstruktivistische Perspektiven. Opladen
1990.
3 Wie in der Goldgräberphase des „Neuen Marktes”. Vgl. Eine Kette von Skandalen. FAZ,
26. Aug. 2004; Geprellte Anleger bleiben auf Schaden sitzen. FAZ, 6. Juli 2004.
Prof. Dr. K Fischer
Fachbereich 1 · Pädagogik, Philosophie, Psychologie · Universität Trier
Universitätsring 15
54286 Trier
Phone: 0 65 88/32 53
Fax: 06 51/2 01 23 42
Email: fischer@uni-trier.de